Ungerecht und unsozial

Dezember172017

Wer braucht eigentlich die „Bürgerversicherung“?
Dr. Mathias Höschel, Vorstand Bundesverband Verrechnungsstellen Gesundheit e .V.

Inzwischen nehme ich keine Wetten mehr an. Meine erste Wette hatte ich direkt verloren. Jamaika ist geplatzt. Ich dachte, Angela Merkel bekommt das hin. Aber eigentlich war klar, dass FDP-Chef Lindner derjenige in der Jamaika-Runde war, der am wenigsten zu verlieren hatte. Er hat die FDP aus dem Nichts heraus in die Regierung des größten Bundeslandes NRW geführt. Und anschließend mit einem überzeugenden Wahlkampf in den Bundestag.
In seiner Partei hat er keine Gegner und kann frei handeln. Eine Regierungsbeteiligung um jeden Preis hätte ihm am wenigsten gebracht, allenfalls jede Menge Risiken. Dann also das abrupte Ende der Reise nach Jamaika. Ob das allerdings gut war, steht auf einem anderen Blatt.

Wie auch immer geschehen - es heißt, dass die Verhandlungspartner, die im ersten Stock der baden-württembergischen Landesvertretung saßen, erst im Fernsehen das Statement Lindners
mitbekamen, der unten vor der Tür der Landesvertretung vor laufenden Kameras in die Mikros sprach. Über den Stil kann man streiten. Nicht aber darüber, welche verheerende Wirkung der Verhandlungsabbruch auf die Zukunft unserer Sozialsysteme, vor allem aber für die Situation der Freiberufler, insbesondere der Kieferorthopäden, haben dürfte. Denn nun drohen, so muss man es klar sagen, eine Neuauflage der Großen Koalition (GroKo), eine Minderheitsregierung von sozialdemokratischen Gnaden oder aber Neuwahlen mit nicht absehbaren Folgen und Kosten. Egal wie es ausgeht: Kaum hatte der (sozialdemokratische) Bundespräsident den zaudernden SPD-Vorsitzenden Schulz auf GroKo-Spur gebracht, stand als oberste Bedingung die Forderung der sofortigen Umsetzung einer Bürgerversicherung auf der Agenda.

Als ob wir nicht andere Probleme in Deutschland hätten. Schon mit dem großspurigen Thema Gerechtigkeit ist die SPD im vergangenen Bundestagswahlkampf ja alles andere als belohnt worden. Also stellt sich ernsthaft die Frage, was diese Forderung soll und wem eine solche scheinsoziale Bürgerversicherung nützen soll. Den Ärzten und den Patienten mit Sicherheit nicht. In allen Ländern, in denen sie praktiziert wird oder eingeführt wurde, hat sie allenfalls zu gleich schlechten medizinischen Versorgungs-Leistungen geführt. Und wer reich genug ist, kann sich trotzdem die besten Ärzte und Medikamente leisten. Was soll daran gerecht sein? Und wie hält es die SPD mit dem Thema Gerechtigkeit, wenn reflexartig die Abschiebung krimineller Asylbewerber in als sicher geltende Gebiete Syriens abgelehnt wird? Das „gerechte Bedürfnis“ der Bürger nach mehr Sicherheit und geordneten rechtsstaatlichen Verhältnissen zählt wohl nichts mehr.

Gerade die Bürgerversicherung zeigt, dass sie das Gegenteil dessen bewirkt, wofür sie angepriesen wird. Nur einige der Schein-Argumente und die Antworten darauf:

  • Mit der Abschaffung des dualen Systems der gesetzlich und der privat Versicherten soll die Zwei-Klassen-Medizin beseitigt werden. Stimmt nicht! Die wirklich Wohlhabenden können sich erst recht die Medizin leisten, die dem normalen Versicherten nicht zukommt.
  • Die angeblich unterschiedlichen Wartezeiten in den Sprechstunden werden beseitigt. Stimmt: Alle müssen dann länger warten, wie in England zu besichtigen ist.
  • Das Gesundheitssystem wird besser finanzierbar und damit auf gleich hohem Qualitätsniveau bleiben. Stimmt nicht: Die Steuerkassen werden am Ende zusätzlich belastet, und damit der „kleine Mann“. Zudem finanzieren die etwa elf Prozent privat Versicherten nahezu 25 Prozent der Praxisumsätze. Viele Bereiche des Gesundheitswesens könnten allein von den Kassenpatienten nicht überleben. Für die Pharmaindustrie entfiele der Konkurrenzdruck.
  • Im dualen System profitieren die gut Verdienenden, weil sie privat versichert niedrigere Beiträge zahlen. Stimmt nicht: Im Alter steigen die Beiträge in den Privatversicherungen, während sie bei den Gesetzlichen in der Regel sinken. Außerdem bilden die Privaten Altersrückstellungen, um den Effekt abzufedern, in der gesetzlichen Krankenkasse wird der junge Versicherte für die Älteren zur Kasse gebeten.

Dies sind nur einige wenige Beispiele dafür, dass die Bürgerversicherung reine Augenwischerei ist. Unser Gesundheitssystem hat sich in den letzten vier Jahren in der Zeit von Gesundheitsminister Herrmann Gröhe erfreulich konsolidiert. Die Zufriedenheit der Bürger mit dem System ist hoch wie nie zuvor. Noch bestehende Schwachstellen müssen energisch angegangen werden. Der Systemwechsel hin zu einer Einheitsversicherung aber würde nach Schätzungen bis zu 80 Milliarden Euro kosten, etwa 30 Jahre dauern und wäre zudem wegen der Altersrückstellungen, die den privat Versicherten gehören, verfassungsrechtlich mehr als bedenklich.

In ihrer blanken Angst vor dem 20-Prozent-Turm bei den nächsten Wahlen verfällt die SPD aber offenbar in billigen Populismus. Mit beliebten Themen der Linken wie Einheitsrente, bedingungsloses Grundeinkommen, Reichensteuer oder Bürgerversicherung glaubt sie verloren gegangenes Wählerpotential zurückgewinnen zu können. Denkt der SPD-Vorsitzende etwa ernsthaft, dass er sich damit durchsetzen kann? Aber ich wollte ja nicht mehr wetten...

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